Kölner Kammerorchester

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Datum: 28.04.2014

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Vom Referat zur Empfindung

Klassik Bach-Passionen in der Philharmonie

Wer die beiden Bach-Passionen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Konzertsaal zu hören beschließt, ist gut beraten, aufführungspraktische, musikgeschichtliche und stilkundliche Fragen zur Seite zu legen und sich stattdessen eine Gefühls- und Erlebniswelt aufzubauen. Fachsimpelei könnte die Emotion behindern, ein offenes Sensorium hingegen nimmt technische Parameter gleichsam automatisch mit. Bach ist immer groß – ob mit oder ohne Vibrato.

In Kölns Philharmonie gab es am Karfreitag nun die „Johannes-Passion“ unter Markus Stenz (mit Gürzenich-Orchester, Vokalensemble Kölner Dom), am Karsamstag die „Matthäus-Passion“ unter Andreas Spering (mit Kölner Kammerorchester, Kartäuserkantorei Köln, Collegium vocale Siegen, Dom-Sängerknaben). Beide Aufführungen ließen Bachs Größe unangetastet, bestätigten allerdings nicht die werkkritische Standardeinschätzung einer aufwühlenden Erregung durch Johannes und einer tröstlichen Besänftigung durch Matthäus.

… In der „Matthäus-Passion“ erlaubte Andreas Spering, obwohl der „Alte-Musik“-Szene länger und enger verbunden als Stenz, weit mehr besinnliche Ausdrucks- und Empfindungsmacht als ebenjener. Die Chöre genügten dem technischen Anspruch und hatten Transparenz in der Fülle, Genauigkeit im Schwung, Homogenität in der Vielfalt. Es ist ja nicht so, dass Stellen wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ oder „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ den Zuhörer in jeglicher Interpretation in den Himmel heben, sie müssten schon geformt und erfüllt werden.

Den solistischen Gegenbeweis für solche Selbstläufertheroie gab der Bass Nikolay Borchev mit der staubtrockenen, uninspirierten Exekution von „Am Abend, da es kühle war“ und „Mache dich, mein Herze, rein“. Und die hohe Konzentration, Kunst und Künstlichkeit für die instrumentale Stimmführung, mit der Nuria Rial (Sopran) und Marianne-Beate Kielland (Alt) ihre Arien-Wunder wie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ bzw. „Erbarme dich“ absolvierten, wird man zwar oft bestaunen, aber nur selten lieben.

So blieb es von den Solisten (Daniel Ochoa als artikulationsschwacher und klanggrober Jesus, Virgil Hartinger als kultivierter Tenor, besonders fein in „Ich will bei meinem Jesus wachen“) allein dem fabelhaften Evangelisten Tobias Hunger überlassen, das Feuer zu schüren. Er legte die Partie als einen gramzerfurchten Mitleidenden an, der unter der Last dessen, was er zu erzählen hat, oft und oft zusammenzubrechen droht. Die Petrus-Klage des „Weinete bitterlich“ für den lyrischen und der Zorn in „Und da sie ihn verspottet hatten“ für den dramatischen Bereich seien als zwei Beispiele unter vielen genannt.

(Gerhard Bauer, Kölner Stadt-Anzeiger, 22.April 2014)